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Bedenklicher Sprach-„code“: Gestern Judenfrage, Heute Türkenfrage?

Bedenklicher Sprach-„code“: Gestern Judenfrage, Heute Türkenfrage? Einspruch!

Der Titel „Die türkische Frage“ veranschaulicht, dass er dazu geeignet ist, die Integration der türkischen Gemeinde in Österreich mit einem neuen Oberbegriff in den Köpfen fest einzementieren.

von Birol Kilic 27.10.2009, Medienanalyse

Ich möchte mich in aller Form für die Vergleiche entschuldigen, aber als Wiener Türke ist es mir ein Anliegen, meine Gedanken und Gefühle zu diesem Thema mit diesem Titel in der österreichischen Zeitung auf Papier zu bringen.

Als ich am 24. Oktober 2009 als langjähriger und treuer Leser den Kurier an meinem Stammkiosk in der Wiener Innenstadt um € 1,20 kaufte, wurde mein Leben in zwei Hälften geteilt. Sie werden mich an dieser Stelle wahrscheinlich fragen: „Warum?“

Wenn Sie mir gestatten, werde ich versuchen, meine Gedanken und Gefühle in ganz einfachen Worten und Sätzen zu Papier zu bringen, um damit auch der Meinungsvielfalt aller meiner verehrten Leserinnen und Leser zu dienen. Ich habe hier einen großen „EINSPRUCH“, und ohne Einspruch könnte ich keinen „ANSPRUCH“ machen.

Es ist ähnlich wie in der Zeit vor und nach Christus (v. Chr. und n. Chr.). Für meine Variante gilt: vor der Kurier-Ausgabe vom 24. Oktober 2009 (v. Chr.) und nach der Kurier-Ausgabe (n. Chr.). Wenn Sie sich die Titelseite genau anschauen, können Sie sich die Frage nach dem Warum wahrscheinlich selbst beantworten. Woran erinnert Sie die Überschrift der Titelseite „Die türkische Frage“?

Hier ist meine Antwort: „Die Judenfrage“, Dieser Titel weckt bei mir historische Assoziationen an die NS-Zeit und bietet genügend Raum für Anspielungen darauf.

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Ich möchte den Chefredakteur der Zeitung „Kurier”, Dr. Christoph Kotanko, in aller Höflichkeit fragen, ob er sich der möglichen Irritationen, die der Titel seiner Zeitung „Die türkische Frage” bei vielen Lesern hervorrufen könnte, bewusst ist.

Als Konsument, der täglich 1,20 € dafür aufwendet, sehe ich mich zu der Feststellung veranlasst, dass ich eine gewisse Irritation empfinde. Konkret möchte ich folgenden fiktiven Fall betrachten: Sie erwerben in einem Supermarkt Lebensmittel und begleichen anschließend die Rechnung an der Kasse. Unter der Prämisse, dass die Annahme einer körperlichen Attacke seitens der Kassiererin als nicht gänzlich unwahrscheinlich erachtet wird, lässt sich folgende Situation konstruieren: Die Bezeichnung evoziert eine Vielzahl an Assoziationen, die in ihrer Gesamtheit eine negative Konnotation aufweisen.

Der Titel „Die türkische Frage“ veranschaulicht, dass er dazu geeignet ist, die Integration der türkischen Gemeinde in Österreich mit einem neuen Oberbegriff in den Köpfen fest einzementieren. In Anbetracht dessen, dass das Problem der Integration durch einen Begriff aus der Zeit des Nationalsozialismus definiert ist, muss die Frage gestellt werden, ob es eine Lösung bzw. „Endlösung“ gibt, die diesen Begriff beinhaltet.

Die Türkenfrage endlich unter Dach und Fach? Mit verschiedenen Lösungsvorschlägen. Österreich diskutiert.

Ich möchte die Erlaubnis einholen, meine Gedanken weiterzuspinnen!

Als österreichischer Staatsbürger mit türkischen Wurzeln sehe ich mich in der Verantwortung, auf die seit Jahrzehnten ungelösten Integrationsprobleme hinzuweisen. Dies tue ich bereits seit 20 Jahren, nicht erst seit den jüngsten fünf Jahren. Es ist mir ein Anliegen, mich von einer falschen Interpretation meiner Aussagen zu distanzieren. Ich betrachte mich nicht als Opfer, im Gegenteil, ich fühle mich als österreichischer Staatsbürger mit allen Rechten und Pflichten.

Im Laufe der Zeit entwickelt sich eine emotionale Bindung zu diesem Land. Insbesondere bei Aufenthalten in der Türkei wird die Sehnsucht nach Österreich spürbar. Ich wünsche Österreich und allen seinen Bürgerinnen und Bürgern, unabhängig von ihrer Nationalität und ihrem Glauben, von ganzem Herzen nur das Beste. Österreich stellt für mich eine geliebte neue Heimat mit all ihren Facetten dar.

Philosoph aus Braunau am Inn
Aus diesem Grund ist für mich unverständlich, wie ein Mann wie Dr. Christoph Kotanko, der in Braunau am Inn geboren wurde, Publizistik studierte, zum Doktor der Philosophie promovierte und dessen älterer Bruder sogar das goldene Verdienstzeichen der Republik Österreich für seine Tätigkeiten im Verein für Zeitgeschichte – genauer gesagt für seine Forschungen zur Zeit des Nationalsozialismus – erhalten hat, so einen Fehler begehen konnte, in dem er einen derartigen Titel in der Kurier-Ausgabe vom 24. Oktober 2009 drucken ließ:„Die türkische Frage“!

NS-Sprachcode ?
Es ist erstaunlich, dass der NS-Sprachcode, der für die Bezeichnung der „Judenfrage“ verwendet wurde, in der Diskussion um die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund herangezogen wird, um die Probleme der Integration von Menschen türkischer Herkunft zu beschreiben. Dabei sollte eigentlich davon ausgegangen werden, dass die Zeit des Nationalsozialismus und ihre sprachlichen Besonderheiten in den Köpfen der Menschen nicht mehr präsent sind. Es stellt sich die Frage, ob die fehlende Diskussion in Österreich oder die mangelnde Klarheit der Definition von Täter und Opfer, im Gegensatz zu Deutschland, hierfür verantwortlich ist.

Diese Rollenverteilung gilt selbstverständlich auch für die ältere und insbesondere die neuere Geschichte der Türkischen Republik. Im Folgenden soll jedoch ausschließlich auf Österreich Bezug genommen werden. Dr. Kotanko, dessen väterlicher Großvater aus Ungarn  ( Ungarn), was er bei einer Pressekonferenz erwähnte, verfügt über ein „Urteils-Bild“ der Austro-türkischen Gemeinde in Österreich. Dieses Bild kann als negatives Vorurteil bezeichnet werden, insbesondere, wenn man berücksichtigt, dass Kotanko den Kurier sehr objektiv betrachtet. Die Leserschaft des „Kurier” sieht sich mit einer signifikanten Herausforderung konfrontiert, da der renommierte Physiker und Nobelpreisträger Albert Einstein einst postulierte: „Es ist leichter, ein Atom zu spalten, als ein Vorurteil.” Mit dem Titel „Die türkische Frage” präsentiert Herr Kotank ein grandioses Vorurteil, das er als CR in Granit meißelt.

Immer wieder! Immer wieder

Es ist erstaunlich, wie oft sich die gleiche Situation wiederholt immer wieder wiederholt. Sobald das Thema Integration aufkommt, können wir beobachten, wie zwei Frauen mit Kopftuch und langen Gewändern, die Discounter-Tragetaschen bei sich führen, durch die Straßen gehen. Infolgedessen scheint es, als existierten für den Kurier keine modernen, muslimischen Türken. Türkische Frauen werden in der öffentlichen Wahrnehmung automatisch mit Kopftüchern und ähnlichen Kleidungsstücken assoziiert. Diese Darstellung erinnert an die Berichterstattung in einigen Zeitungen vor dem Zweiten Weltkrieg. Auch damals wurden orthodoxe Juden in Verbindung mit jüdischen Angelegenheiten im In- oder Ausland stets mit Kippas und jüdischen Hüten abgebildet.

In die Zeitungsgeschichte eingehen?

An dieser Stelle könnten weitere Beispiele angeführt werden. Ein Beispiel aus dem Kurier hingegen lässt die Vermutung zu, dass es in die Zeitungsgeschichte eingehen wird. Im Folgenden wird genau dieses Beispiel mit dem Titel “ Die türkische Frage“ dargelegt. Dafür sei auf die Kurier-Zeitung von vor einigen Monaten verwiesen, in der unter der Überschrift „Fremde neue Heimat“ über die Situation von Türken in Österreich berichtet wird.

 

Dabei wird deutlich, dass sich diese trotz langjähriger Anwesenheit seit 1960  in der neuen Heimat Österreich fremd fühlen. Das auf der Titelseite abgebildete Foto eines jungen türkischen Mannes, der eher an einen Skinhead erinnert und dessen Darstellung dazu dient, bei den Lesern Angst und Vorurteile zu schüren, soll an dieser Stelle außer Acht gelassen werden. Stattdessen wird das Foto auf der dritten Seite einer näheren Betrachtung unterzogen.

Bild aus Istanbul in der Wiener Gemeinde: Lange hier und trotzdem fremd”

Kurier Bild. Zu sehen sind zwei Frauen auf einem Balkon, von dem die türkische Fahne herunterhängt. Wohl bemerkt ist diese Bald in Istanbul/Güngoren entstanden und nicht, wie es im Kurier dargestelit wird, in einem Wiener Gemeindehaus. Wie kann man zwei frauen, die in ihrer Heimatstadt Istanbul mehr als vollständig integriert sind, in einer üsterreichischen Zeitung abdrucken und es mit dem Titel „Lange hier und trotzdem fremd“ garnieren?

 

Das Bild zeigt zwei Frauen auf einem Balkon, von dem die türkische Fahne herunterhängt. Es sei darauf hingewiesen, dass das Bild in Istanbul/BezirkGüngören entstanden ist und nicht, wie im Kurier dargestellt, in einem Wiener Gemeindehaus. Letzteres wird von den Verfassenden offenbar als negativer Referenzpunkt in den Köpfen (Vorurteil) der LeserIinnen verankert werden soll, um die Situation zu verschlechtern.

Es ist zu hinterfragen, inwiefern es angemessen ist, zwei türkische Frauen, die in ihrer Heimatstadt Istanbul /Bezirk Güngören vollständig integriert sind, in einer österreichischen Zeitung abzubilden und dies mit dem Titel „Lange hier und trotzdem fremd” zu versehen. Wie beurteilen Sie diese Darstellung?

Diese Art der Berichterstattung entspricht weder den Kriterien des qualitativen Journalismus noch ist sie als humorvoll zu bezeichnen. Diese Darstellung kann als schwarze Komödie mit einem erstklassigen Beispiel eines Qualitätsmediums bezeichnet werden, was mich als Leser und Konsument der Zeitung Kurier sehr betroffen macht. Das Foto kann bei der Agentur REUTERS Media von Herrn Andreas Genz (http://pictures.reu-ters.com) käuflich erworben werden. Unter dem Foto findet sich folgende Bildunterschrift: „Die beiden Frauen sitzen auf ihrem Balkon, der mit einer türkischen Flagge verziert ist, und beobachten die Situation in Istanbul, als am 28. Juli 2008 eine Bombenattacke 17 Menschenleben forderte.” Die Bildquelle ist wie folgt angegeben: „REUTERS/Osman Orsa”.

Foto Ursprung nicht in Wien sondern in Istanbul: So ein Zufall Türkischer Presserat-Präsident

Im Rahmen einer Recherche wurde mit dem Fotografen des Bildes aus Istanbul, Herrn Osman Orsal, ein Gespräch geführt, in welchem er sich zu seiner Gefühlslage äußerte, die durch die Veröffentlichung seines Fotos aus Istanbul in der österreichischen Zeitung „Kurier” mit dem Titel „Lange hier und trotzdem fremd” hervorgerufen wurde.

Sein(Osman Orsal aus Istanbul) Resümee lautet: „In meinem Leben habe ich eine Vielzahl von Ereignissen beobachtet, gehört und auf Bildern festgehalten, jedoch eine derartige Erfahrung noch nie gemacht. Mein Onkel ist der Vorsitzende des türkischen Presserats sowie Chefredakteur der renommierten Zeitung Hürriyet, Herr Oktay Eksi. Es wird empfohlen, sich an ihn zu wenden. Herr Oktay Eksi zeigte sich gleichermaßen überrascht und empfahl uns, uns an den österreichischen Presserat zu wenden. Des Weiteren zeigte er sich überrascht über die Verwendung eines Bildes aus der Türkei in Österreich zu einem derart sensiblen Thema.“

2009: Kein Presserat in Österreich

Es besteht in Österreich keine Möglichkeit, sich an einen Presserat zu wenden. Bei der Recherche zu dieser Tatsache wurde ersichtlich, dass Österreich in der westlichen Welt das einzige Land ist, in dem es keinen Presserat gibt. Im Jahr 2002 wurde der Presserat aufgelöst. Folglich besteht für Konsumentinnen und Konsumenten sowie Leserinnen und Leser österreichischer Zeitungen keine Möglichkeit, sich im Falle einer Beanstandung des Inhalts eines Berichts an eine zuständige Stelle zu wenden. Welche Handlungsoption bleibt demnach?

Die Inanspruchnahme der Gerichte ist mit hohen Kosten, einem beträchtlichen Zeitaufwand sowie einem ungewissen Ausgang des Verfahrens verbunden. Eine weitere Möglichkeit wäre, eine Anzeige wegen Volksverhetzung bzw. Verhetzung zu erstatten. In Österreich existiert keine moralische und unabhängige Instanz, an die sich Opfer einer Berichterstattung wenden können, wie es der Presserat in der Bundesrepublik Deutschland ist. Dies gilt für sämtliche Themenbereiche.

Es stellt sich die Frage, ob diese Vorgehensweise aus der Perspektive der Konsumentinnen und Konsumenten, denen ein Betrag von 1,20 Euro für den Erwerb einer Zeitung in Rechnung gestellt wird, als angemessen zu betrachten ist.

Ich zahle 1,20 € und bekomme einen Schlag ins Gesicht

Zeitungen leben vom Kauf durch die Leserinnen und Leser sowie von Inseraten. Ich habe das als Konsument der Zeitung „Kurier” verdient, die ich jeden Tag für 1,20 € erwerbe. Ich erwarte, dass sich der Konsumentenschutz darum kümmert! Ich werde mich an die Inseratekunden der Zeitung wenden und sie fragen, ob sie mir ihre Ware als Zeitungsleser bekanntmachen (Imagewerbung, PR etc.) und verkaufen wollen.

Diese Titelseite stellt mich und alle meine Landsleute als Parasiten dar – das ist eine nicht gut..! Die Verwendung von Sprachcodes aus der NS-Zeit und beängstigenden Bildern, die die Integration nicht fördern, ist unverschämt und ungehemmt. Das darf nicht noch einmal passieren! Der Kurier ist eine wichtige Zeitung, die auch der österreichischen Raiffeisenbank gehört, bei der tausende AustrotürkInnen auch KundInnen sind.

Birol Kilic

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