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Kommentar zu Thilo Sarrazins Lettre-Interview

Schneidig spricht der Berliner Senator Thilo Sarrazin im Lettre-Interview (Lettre Nr. 86, 2009) über seine Vorstellungen über Berlin als „Stadt der Elite“, aus der alle, die „keine produktive Funktion“ haben und nicht „am normalen Wirtschaftskreislauf teilnehmen“, verschwinden sollen: „Jeder, der bei uns etwas kann und anstrebt, ist willkommen; der Rest soll woanders hingehen.“ Der Rest, das ist für ihn vor allem die überwiegende Mehrheit der Türken und Araber und allgemein die Unterschicht, „Benachteiligte aus bildungsfernen Schichten“.

Thilo Sarrazin, Berliner Senator

Die flotten Sprüche des Herrn Senators, die in Deutschland und Österreich seit Wochen geradezu mit Genus immer wieder zitiert werden, versammeln im Grunde nur die Stereotypen über die „Nichtleistungsträger“, über die Türken und Araber, die laut Sarrazin das soziale Transfersystem ausnützen, gleichzeitig den Staat ablehnen und sich überdurchschnittlich stark vermehren. Das SPD-Mitglied Thilo Sarrazin ist damit eine weitere Stimme eines rechten Diskurses in Europa, der mit Natur und Kultur (die „atavistische und aggressive“ Mentalität der Türken) argumentiert und der anti-muslimische Ressentiments mit der elitär autoritären Verachtung für die wirtschaftlich Abgehängten und sozial Deklassierten verbindet.

Dieser Diskurs scheint Konjunktur zu haben – das zeigt die einmütige Begeisterung für die Aussagen Sarrazins, die er selbst als „stammtisch-nah“ bezeichnet, in der konservativen Presse. In Österreich ließ es sich der Chefredakteur der „Presse“ nicht nehmen, sich in einem Leitartikel als Fan der Aussagen von Sarrazin zu outen und sich ausdrücklich dahinter zu stellen. Es hagelte zwar Proteste und Distanzierungen gegenüber Sarrazin, gleichzeitig mangelt es in der Diskussion an Gegenargumenten, die differenzieren zwischen einer berechtigten Kritik an gesellschaftlichen Missständen, auch in klarer Sprache, und einer pauschalen Verachtung ganzer „Kulturen“, bei der Kultur den Rasse-Begriff ersetzt, Sarrazin spricht über die Unterschicht in Berlin. Aber das Gefühl lässt einen nicht los, dass das Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank damit die Denkmuster und den Zynismus eines Teils der globalen Elite auf den Punkt bringt, wenn er über jenen Teil der Bevölkerung räsoniert, „etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung, die nicht ökonomisch gebraucht werden“. Die Armen, die Prekarisierten, die migrantische Underclass – die sollen „woanders hingehen“, die sollen den Leistungsträgern und Hochqualifizierten Platz machen und den Staat nicht belasten.

Weltweit wächst der Anteil derer, die eine sozialdarwinistisch entfesselte Weltwirtschaftspolitik ausgeschieden, an den Rand geschleudert hat, von ihr nicht gebraucht wird. Aber wo soll die Milliarde Hungernder und Unterernährter, wo sollen die Millionen Arbeitslosen und Armen in den abgehängten Teilen der Welt hingehen, wenn sie vom System nicht gebraucht werden? Es ist das gleiche Kosten-Nutzen-Schema, in dem Menschen nur in ökonomischen Kategorien bewertet werden: ob sie ökonomisch etwas nützen, leisten oder nicht und deshalb verachtet werden dürfen.

Es sind die gleichen „Leistungsträger“ und europäischen Eliten, die sich in Reden gerne auf die europäischen Werte und auf die Aufklärung berufen, die man dem Islam voraushabe, und die sich gleichzeitig nichts dabei denken, die Prinzipien der gleichen Würde aller Menschen – unabhängig davon, wie hochqualifiziert und wirtschaftlich effizient sie sind – mit Füßen zu treten, wenn es sich um die Armen und die Fremden handelt. Aus einer ethischen Sicht, ob man sie religiös oder humanistisch begründet, hat niemand das Recht, jemand zu verachten und Hass gegenüber jemand zu schüren, weil er „bildungsfern“ ist, d.h. keine Bildungschancen gehabt hat, weil er einen anderen religiösen Glauben hat, weil er eine andere kulturelle Herkunft hat oder weil er nicht Deutsch spricht, aus welchen Gründen auch immer.

Django Asül, erfolgreicher deutscher Kabarettist

Man sollte den politischen Kontext nicht übersehen, in dem das Interview mit Thilo Sarrazin steht. Hier spricht ein Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank inmitten der dritten Krise des Weltwirtschafts- und Finanzsystems nach den Krisen der Jahre 1873 und 1929 über das Versagen der „Nichtleistungsträger“, der Unterschichtsangehörigen, über die Defizite der türkischen und arabischen Migranten. Er spricht nicht über das monströse Versagen und die Unverantwortlichkeit der „Leistungselite“, vor allem der internationalen Finanzelite, zu der Sarrazin gehört – der Banker, der Fondmanager, der Finanzmarktaufsicht, der Finanzpolitiker, der Aufsichtsräte -, die den weltweiten Kollaps verursacht haben, der weltweit unzählige Menschen in die Armut gerissen hat, ohne dass sie etwas dafür können.

Das Finanzsystem, das den Regierungen die Abschaffung der Regulierungen der Finanzmärkte einreden konnte, das die Staaten nun mit ungeheuren Summen auffangen musste und das nun munter und unverdrossen zu seinen alten Spielen, Kunststücken und Prämien zurückkehrt, als wäre nichts gewesen. Wer ist es, der da in Wirklichkeit den Staat verachtet? Sarrazin sagt am Schluss des Interviews: „Die Medien lieben es, wenn Krach ist. Das finden sie toll, und wenn es unter haltsam ist, auch.“ Vielleicht soll dieser Krach ablenken von den eigentlichen Themen, üb die die Gesellschaft diskutieren sollte. Was für ein Glück für Sarrazin und seine Kollegen, dass diese Manöver immer wieder aufgehen, bei denen die tiefe soziale Verunsicherung, Wut und Frustration der Masse, die der politisch ungebändigte Superkapitalismus verursacht, auf gesellschaftliche Außenseiter und Sündenböcke gelenkt werden können.

Dr. Ernst Fürlinger

Donau-Universitat

Krems, Department

Migration und Globalisierung

Maria Magdalena Sevgen

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