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Türkei: „Aleviten beginnen ihre Rechte einzufordern“

Türkei: „Aleviten beginnen ihre Rechte einzufordern“

Superior Franz Kangler lebt seit 33 als katholischer Priester in Istanbul und beobachtet die türkische Religionspolitik. Religion.ORF.at hat ihn zu den Auswirkungen der österreichischen Anerkennung der Aleviten in deren Ursprungsland befragt.

Ist die Frage der Anerkennung der Aleviten in Österreich in der Türkei registriert worden?

Die Frage ist schon registriert worden, aber eher als Hintergrund für eine Frage, die im Land selbst aktuell ist, weil die Rechtsstellung der Aleviten in der Türkei im Moment sehr intensiv besprochen wird. Schwierig dabei ist, dass es mehrere Strömungen innerhalb der Aleviten gibt, die nicht immer so leicht unter einen Hut zu bringen sind.

Inwiefern?

Die einen haben das Gefühl, dass im Rahmen des staatlich organisierten Islams zu wenig Platz für die Aleviten ist und möchten gern im Rektorat für religiöse Angelegenheiten stärker vertreten sein. Andere sind der Meinung, dass der türkische Staat sich aus der religiösen Frage heraushalten sollte und es den Religionsgemeinschaften selbst überlassen sollte, wie sie sich organisieren und in welcher Form sie auftreten. Gemeinsam ist beiden Gruppen, dass sie sich im gegenwärtigen türkischen Religionsunterricht zu wenig vertreten fühlen.

Wie sieht dieser Religionsunterricht aus?

Es gibt einen Unterricht, den die offizielle Türkei verpflichtend für alle Staatsbürger durchführt. Dieser Unterricht ist von der Idee her grundsätzlich eine Religions- und Moralkunde, aber natürlich stark sunnitisch geprägt. Da würden die Aleviten in der Mehrzahl lieber frei sein, den zu besuchen oder nicht zu besuchen, und würden ihn in der Regel vermutlich nicht besuchen.

Wurde schon einmal versucht, das zu ändern?

Es gibt vom Staat bereits eine Zusage, dass die Religionsbücher überarbeitet werden sollen, sodass auch Kenntnis über die Aleviten vermittelt wird. Vielen Aleviten scheint das aber unzureichend zu sein, dass Informationen von außen über sie vermittelt werden sollen.

Wie würden Sie das Image der Aleviten in der Türkei generell beschrieben?

Das Schwierige an der Situation ist, dass man bis vor etwa 20 Jahren meist nur sehr abwertend über die Aleviten gesprochen hat, Im positivsten Sinn hat man sich lustig gemacht darüber, aber sehr häufig hat das dann auch zu blutigen Auseinandersetzungen geführt bis hin zu Vorfällen, bei denen Aleviten ums Leben gekommen sind. Daran hat sich inzwischen schon einiges geändert.

Warum?

Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass die Aleviten früher eher in ländlichen Gegenden und meist in geschlossenen Gemeinschaften gelebt haben. Durch die Abwanderung in die Städte musste man sich dann zwangsläufig mit ihnen auseinandersetzen. Da kam es zum Beispiel zu ersten Eheschließungen zwischen Nicht-Aleviten und Aleviten, also auch zu ganz neuen Problemen, die in früheren Jahrzehnten nicht vorhanden waren.

ZURÜCK ZUR SITUATION HEUTE: SIND DIE ALEVITEN NUN IN DER TÜRKEI ANERKANNT ODER NICHT?

Sie werden offiziell einfach als Muslime behandelt und haben daher selbstverständlich auch genau die gleichen Rechte. Ihre Formen der Gemeinschaftsausübung sind aber teilweise völlig andere. Sie haben zum Beispiel Versammlungshäuser, die an die Stelle der Moschee treten. Sie hätten also theoretisch das Recht, Moscheen zu bauen oder Imame zu ernennen, nicht aber in ihren eigenen Formen. Und da gibt es eben wieder diese Zweiteilung: Die einen sagen, dass sie die gleichen Zuwendungen und Recht für Ihre Form des Glaubens haben wollen wie die Sunniten. Die anderen wollen einfach nur in Ruhe gelassen werden.

In Österreich gab es zwei alevitische Anträge auf Anerkennung, von denen sich nur einer als islamisch bezeichnet hat. Werden die Aleviten in der Türkei als Muslime wahrgenommen?

Größtenteils werden die Aleviten hier in der Türkei als Muslime gesehen. Unter den Aleviten selbst gibt es verschiedene Schichten. Es gibt auch Leute, die sich eher als eigenständige Gruppe sehen, die ihre Traditionen aus Zentralasien hat und erst später mit dem Islam vermengt wurde. Andere sagen wiederum, dass der Prophet Mohammed und seine Familie selbstverständlich zu den heiligsten Punkten ihres Glaubens gehören. In der Bevölkerung – und auch vom Staat – werden sie aber wie gesagt generell als Muslime gesehen.

Hat die Anerkennung der Aleviten in Österreich irgendeine konkrete Auswirkung in der Türkei?

Man bemerkt eher ein gewisses Umdenken. Von der laizistischen Tradition her haben die Aleviten eher den Standpunkt vertreten, dass sie ein eigenständiges Leben leben und vom Staat in Ruhe gelassen werden wollen. Jetzt kommen aber die Rückflüsse der Diskussionen in Österreich oder auch in Deutschland zurück in die Türkei und es gibt Gruppen innerhalb der Aleviten, die angesichts dessen beginnen, ihre Rechte vom Staat einzufordern.

Kann man sagen, dass die österreichische Anerkennung in der Türkei etwas in Bewegung gebracht hat?

Diese Bewegung ist schon grundsätzlich gegeben, durch viele Dinge. Es tut sich auch viel im Rahmen einer türkischen Zivilgesellschaft. Da werden heute viele Dinge angesprochen, die vor 15 Jahren noch undenkbar waren.

Zum Beispiel?

Die grundsätzliche Frage der Stellung der Religion im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt. Soll die Religion über den privaten Bereich hinaus in der Gesellschaft überhaupt eine Stellung haben? Das löst natürlich bei Gruppierungen, die sich stark mit dem türkischen Laizismus identifizieren, gewisse Befürchtungen aus. Von da her ist Religion im Allgemeinen im Moment ein brennendes Thema in der türkischen Innenpolitik.

Wolfgang Slapansky, Michael Weiß Radiobeitrag in der Ö1-Sendung Religion aktuell am 30.12.2010, gestaltet von Wolfgang Slapansky

Maria Magdalena Sevgen

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